Die Kritik - Ein Beispiel
GOP Münster überzeugt mit Premiere der „Wild Boys“
Anders als ursprünglich geplant verlief die jüngste Premiere im GOP Variéte-Theater Münster. Denn bei der Erstaufführung der „Wild Boys“ gabe es eine wesentliche Änderung.
Münster Sind die Zeiten mittelgroßer Variéte-Produktionen vorbei? In Anbetracht der jüngsten Premiere im GOP Variéte-Theater Münster könnte dem geneigten Zuschauer dieser Gedanke während der rund zweistündigen Show in den Sinn gekommen sein. Weit weg vom gewohnten GOP-Premierenniveau war der Auftritt, den die neun Artisten bei „Wild Boys“ unter der Regie von Karl-Heinz Helmschroth boten. So wackelten stellenweise die Nummern, enthielt die Show keinen inhaltlichen Zusammenhang.
Woran es lag? Vielleicht daran, dass die Hauptfigur „Rosemie“ kurzfristig hatte ausgetauscht werden müssen. Statt einer gemütlichen Schwäbin führte Chantall aus dem teuflischen Berlin durch den Abend. Anders als in der Programmbeschreibung angekündigt, erwartete die Zuschauer weniger ein komödienhaftes Rangen um die liebenswerte Dame, die auf der Suche nach ihrem Traummann sein sollte, sondern eine Aneinanderreihung von artistischen Acts, durchbrochen vom pausenfüllenden Geplänkel der Berlinerin.
Abend mit Atmosphäre
Und doch war es gerade diese Art der Unprofessionalität, die dem Abend eine ganz besondere Atmosphäre bescherte. Hochkonzentriert und in einer Mischung aus Angst und Hoffen verfolgte das Publikum wie sich die Artisten in schwindelerregenden Höhen und artistischen Stellungen an Trapez, Lederriemen und Stange bewiesen. Begleitet von lauten Bässen und harten Beats suchten die Darsteller ihre Anstrengung während der Darbietungen zu verbergen. Doch gelang ihnen dieses nicht gänzlich. Immer wieder drohte die professionelle Gute-Laune-Maske ob der körperlichen Belastungen zu fallen.
Aus fachlicher Betrachtung eine Tatsache, die niemals passieren darf, nun eben doch passierte und damit dem Zuschauer ein Stück Menschlichkeit präsentierte; Artisten und Publikum für einen Abend auf eine besondere Weise miteinander verband. Etwa, als der Berliner Artist Gunnar Erik, der zwar über zwei Jahrzehnte Bühnenerfahrung hat, mittlerweile als Zirkuslehrer arbeitet und dennoch noch einmal das Rampenlicht suchte, sich nach einem kräftezehrenden Auftritt sichtbar erleichtert auf den Bühnenrand fallen ließ. Deutlich hörbar erfüllte ein gemeinsames Aufatmen in Momenten wie diesen den Saal. Auch der vermutlich vorzeitige Abbruch eines Balancieracts, während dessen sich Artist Maxim Kriger auf einem Gebilde aus Metallböden, Rollen und Zylindern in Höhen stapelte, das beim unbeteiligten Betrachter allein ob seiner Fragilität erste Panikattacken auslöste, wurde vom Publikum nicht mit Schmährufen, sondern mit brandendem Applaus bewertet.
Sympathie des Scheiterns
Doch was war der Grund für diese Nachsicht? War sie allein dem Ruf des GOP geschuldet, den sich selbiges seit seinen Anfängen in Münster erarbeitet hat oder drückte sich in der gezeigten Milde nicht eher die Sympathie für ein menschliches Scheitern aus. Ist es nicht gerade in der heutigen auf hochglanzpolierten Welt, der Wunsch nach Einfachheit, der zunehmend mehr Menschen umtreibt. „Back-to-the Roots“ ist längst keine Lebensphilosophie mehr, die allein vermeintlichen Ökofantasten und Weltverbesserern zugeschrieben wird.
Back-to-the-Roots könnte somit denn auch am ehesten Umschreiben, was den geneigten Zuschauer bei „Wild Boys“ erwartet. Statt makelloser Auftritte darf er sich freuen auf Momente spontaner Situationskomik, purer Lebenslust und berührender Artistik. Und, ist Schwäbin „Rosemie“, wie geplant, in der kommenden Woche zurückkehrt, erwartet ihn dann vielleicht auch wirklich ein Abend voller Irrungen und Wirrungen – nämlich, wenn „Rosemie“ auf der Suche nach ihrem Traummann die neun „Wild Boys“ einmal ganz genau ob ihrer Qualitäten unter die Lupe nimmt.
Infos zum Kartenvorverkauf für „Wild Boys“ gibt es auf www.variete.de/muenster.
Erschienen: GN-Online, 07.03.2020, 9 Uhr von Claudia Voß