Das Interview - Ein Beispiel

Eigene Gefühle als Inspiration

Anja Milewski, Gleichstellungsbeauftrage der Stadt Nordhorn. Foto: Lüken

Nordhorn Die Corona-Pandemie, die uns seit Wochen in Atem hält, ist vor allem auch eine Krise für die Frauen. Das machte die Gleichstellungsbeauftragte Anja Milewski einmal mehr in ihrem Tätigkeitsbericht deutlich, den sie den politischen Vertretern/innen während der jüngsten Ratssitzung vorstellte.

„Schon vor Corona gab es eine Verteilungslücke bei der unbezahlten Sorgearbeit in den Familien. Sobald Kinder da sind, geht sie eindeutig zu Lasten des weiblichen Parts. Erwachsene Frauen leisten statistisch anderthalb Mal so viel unbezahlte Sorgearbeit wie Männer. Das sind im Durchschnitt 87 Minuten mehr am Tag“, rechnete Milewski vor.

Missverhältnis verschärft

Durch Corona wäre dieses Missverhältnis noch einmal verschärft worden, so ihr Eindruck. „Es ist, als hätte man einen Scheinwerfer drauf gehalten“, sagt die städtische Gleichstellungsbeauftragte über die aktuelle Situation. Immer mehr Medienberichte zeigten, dass diese Krise vor allem eine Krise der Frauen sei: Mütter sind daheim mit Kinderbetreuung und Homeschooling beschäftigt, sie übernehmen die Aufgaben der Kindergärten, Kitas und Schulen. Die Sorgearbeit in den eigenen vier Wänden ginge allerdings zu Lasten der Lohnarbeitsstunden. Anja Milewsi: „So verfestigen sich durch Corona die Rollenstereotype, gegen die meine Kolleginnen und ich seit Jahren ankämpfen.“

Gleichzeitig verschärfte sich ihrer Meinung nach die Lage für die Frauen – und nicht selten auch für die Kinder – beim Thema häusliche Gewalt. „Ich habe in der Zeit des sogenannten Lockdowns selbst gemerkt, dass Hilferufe mehr wurden. Es gab bei mir mehr Beratungsgespräche und einen gestiegenen Informationsbedarf speziell zu diesem Themenfeld.“

Interview mit Anja Milewski

Die drei großen „K“ – Kinder, Küche, Kirche – haben heute ein modernes Mäntelchen bekommen und nennen sich Homeschooling, Homecooking, Homeoffice. Machen die Frauen in Zeiten der Corona-Pandemie eine Rolle rückwärts? Die GN führten dazu ein Interview mit Anja Milewski.

Viele Jahre wurde für die Gleichstellung zwischen Mann und Frau gekämpft und gestritten. Bewegen wir uns durch Corona gesellschaftlich wieder zurück in die Zeiten des „Heimchens am Herd“?

Anja Milewski: Die unterschiedlichen Rollenbilder und -verteilungen in den Familien waren schon vorher da: zu wenig Frauen in Führungspositionen, eine große Lücke bei der Rente oder eine schlechtere Bezahlung. Die Frauen üben die Rolle in der Sorgearbeit oftmals alleine aus. Nur rückt das mit der Corona-Krise jetzt wieder stärker in den Fokus.

Hat denn der Lockdown etwas in den Beziehungsgeflechten verändert?

Milewski: Nein, sie gestalten sich weiter so, wie sie zuvor im Grunde schon waren. Die Praxis zeigt, dass die Frau sich um die Kinder kümmert und der Mann nach draußen geht, da er durchschnittlich der besser Verdienende ist.

Also von Gleichberechtigung ist wenig zu sehen.

Milewski: Ich erlebte in der Beratung, die ich während der Zeit der Kontaktbeschränkung telefonisch durchgeführt habe, erschöpfte Frauen, die viel mehr Arbeit zu bewältigen hatten als vorher. Und die oft sagten: Das war so nicht ausgemacht. In dem Moment, wo ein Paar Kinder bekommt, ändern sich die Strukturen und die Rollen. Die ungleiche Arbeitsverteilung ist dann wieder ein Thema.

Also die Frauen sind wieder klassisch verantwortlich in der Familie für Kinder und Küche?

Milewski: Ja, ähnlich wie vor 20 Jahren. Wobei ich es heute noch einmal krasser erlebe. Ein Paradebeispiel ist die Wäsche. Die macht noch immer überwiegend die Frau.

Dennoch sind nicht alle Frauen gleich von der Corona-Lage betroffen.

Milewski: Nein, es gibt bei den Paarbeziehungen Unterschiede. Und natürlich bei denen zwischen Paaren und Alleinerziehenden. Letztere sind durch Corona mitunter in eine große Not geraten. Hatten sie schon vorher die schlechteren Karten, kam durch den Lockdown noch einmal eine Schüppe drauf. Viele Alleinerziehende suchen in Nordhorn verzweifelt nach einer bezahlbaren Wohnung. Dazu hatten sie in den vergangenen Wochen und Monaten fast gar keine Chance. Diese Frauen arbeiten überwiegend in Teilzeit- oder Mini-Jobs. Als Kindergärten und Schulen geschlossen wurden, hatten sie niemanden, der ihre Kinder beaufsichtigen konnte. Sie selbst konnten dann ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, weil sie zunächst keine Notbetreuung in Anspruch nehmen durften. Das konnten wir hier dann aber ändern, doch es hat etwas gedauert.

Wie hat sich die Corona-Krise auf Ihre Arbeit als Gleichstellungsbeauftragte ausgewirkt?

Milewski: Ich habe wesentlich mehr Beratungsgespräche durchgeführt. Die Frauen benötigten unter anderem einen Wegweiser, wo sie hingehen und an wen sie sich wenden können. Hauptgegenstand der Anrufe waren Trennungsfragen. Und die Suche anschließend nach einer Unterkunft. Oft gestaltete sich das als Mittelding zwischen dem Raus aus der gemeinsamen Wohnung und dem Frauenhaus. Aber auch Männer haben sich gemeldet, die sich von Gewalt bedroht gefühlt haben. Für Alleinerziehende hatte ich schon 2019 in Kooperation mit der Koordinierungsstelle Frauen und Wirtschaft vom Landkreis einen Treff gegründet. Hier haben wir per Mail, per Telefon oder durch das Angebot von Webinaren Kontakt gehalten. Ich habe die Beteiligten regelmäßig mit Infos über die aktuellen Entwicklungen und Änderungen versorgt.

Stichwort Gewalt: Viele Beratungsstellen befürchten, dass die innerhalb von Beziehungen oder in den Familien zugenommen haben könnte. Wie ist Ihre Einschätzung?

Milewski: Ich gehe auch davon aus, dass es so ist, ich kann es mir nicht anders vorstellen. Zwar berichten Frauenhäuser und Beratungsstellen nicht von erhöhten Fallzahlen, das kann aber auch daran liegen, dass die Frauen momentan ja noch nicht wieder richtig raus kommen. Ich gehe von einer Bugwelle aus, die auf uns zurollt. Es gibt eine erste Studie der Technischen Universität München, die am 8. Juni veröffentlicht wurde. Darin ist zu lesen, dass rund drei Prozent der Frauen in Deutschland in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen zu Hause Opfer körperlicher Gewalt wurden. 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt. In 6,5 Prozent aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft. Waren die Frauen in Quarantäne oder hatten die Familien finanzielle Sorgen, lagen die Zahlen deutlich höher.

Welche Konsequenzen könnten Sie daraus ziehen?

Milewski: Was auch im Rahmen meines Tätigkeitsberichtes wieder klar wurde, ist die Vielschichtigkeit in der Gleichstellungsarbeit. Durch das bewusste Fokussieren erkennt man, wie wenig 50/50 wir real wirklich haben – in der Bezahlung, im beruflichen oder auch familiären Umfeld. Da gibt es noch viel zu tun.

Und die Corona-Pandemie ist ja noch nicht vorbei.

Milewski: Nein. Viele erwarten möglicherweise eine zweite Welle im Herbst. Zu einer Jahreszeit, zu der sich die Aktivitäten ohnehin mehr nach innen verlagern. Aber ich habe bereits einige Ideen im Kopf, um schnell reagieren und unterstützen zu können. Es sind auch Notfallkärtchen vorbereitet, die Nummern und Ansprechpartner enthalten, die 24 Stunden erreichbar sind. In Scheckkartengröße können sie gut in der Handtasche verstaut werden, ohne dass sie sofort jedem ins Auge fallen. Die Hinweise sind in verschiedenen Sprachen aufgedruckt – sie müssen nur an die Frauen gebracht werden und sie erreichen.

Erschienen: GN-Online, 06.07.2020, 13:00 Uhr von Susanne Menzel