Der Kommentar - Beispiel

Blumen als Zeichen der Anteilnahme: Der gewaltsame Tod eines Jungen an einem Bahnsteig im Frankfurter Hauptbahnhof löste nicht nur Betroffenheit und Anteilnahme aus, sondern auch eine aufgeregte Sicherheitsdiskussion. Folge eines medialen Sperrfeuers von schlechten Nachrichten? Foto: Frank Rumpenhorst

Kommentar: Schlechte Nachrichten? Es geht um das, was ist

Nachrichten rund um die Uhr. Krisen, Katastrophen, Klimawandel. Eine mediale Dauerberieselung, die stresst, ängstigt und frustriert. Was nun? Medien dürfen sich nicht länger in diese Spirale hineintreiben lassen, findet GN-Chefredakteur Guntram Dörr.

Ein psychisch kranker Mann stößt ein achtjähriges Kind und seine Mutter vom Bahnsteig am Frankfurter Hauptbahnhof vor den einfahrenden Zug. Der Junge kommt ums Leben, die Mutter kann sich retten und überlebt als gebrochene Frau. Dieser Fall bewegt seit Tagen das Land, führt zu einer Spendenaktion, dem Urlaubsabbruch des Bundesinnenministers, einer sofort aufflackernden Debatte über Migration (der Täter ist in Eritrea geboren) und einer hektischen Bestandsaufnahme zu der Frage: Wie sicher sind unsere Bahnsteige?

Alle deutschen Medien präsentieren dieses tragische Ereignis als Nachricht, die das sonstige Geschehen in den Hintergrund drängt, und zwar das weltweite. Zu Recht?

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner findet Anlass zur Kritik am Vorgehen der Journalisten. Sie sagt – am Dienstagabend in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz –, dass wesentlich mehr Menschen ums Leben kommen, weil sie Teile von Kugelschreibern verschlucken. Dieser Vergleich klingt zynisch. Doch der schockierende Fall von Frankfurt ist ihr ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sich das Nachrichtengeschäft unter dem Einfluss schneller Verbreitung im Internet zur Dauerschleife von Negativ-Nachrichten entwickelt hat, die den modernen Konsumenten unter permanenten Stress setzen.

Urner beklagt eine „Vermüllung der Gehirne“ und warnt vor der Konsequenz, dass sich der Mensch in seiner Hilflosigkeit, etwas zu ändern, in die Geborgenheit des überschaubar Privaten zurückzieht. Doch in der Konsequenz verbleiben Resignation und tiefe Unzufriedenheit.

Die Wissenschaftlerin hat Recht – und auch wieder nicht. Es ist völlig in Ordnung, am Schicksal unschuldiger Opfer Anteil zu nehmen, darüber muss berichtet werden. Parallel erfordert verantwortliches journalistisches Handeln die sofortige Klarstellung, dass der Aufenthalt an Bahnsteigen kein Sicherheitsrisiko ist.

Und die GN? Berichteten natürlich ebenfalls über das Drama von Frankfurt und fanden daneben genügend Anlass, stressfördernde Nachrichten vor der eigenen Haustür zu verbreiten – Rekordhitze, plötzlich klaffende Löcher in Straßen, die Plage der Eichenprozessionsspinner. Sie schreiben, wie „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein einst formulierte, „was ist“ – und was interessiert und Gesprächsthema ist.

Die Frage bleibt, ob wir den Aufgeregtheiten Einzelner folgen, die wegen solcher Unbilden in ihrer Grafschafter Heimat am liebsten auswandern oder Amts- und Funktionsträger in harten Regress nehmen möchten.

Mein Rat ist, auch bei heißen Temperaturen kühlen Kopf zu bewahren. Wir werden uns nicht „treiben lassen“ von der Flut der Ereignisse, wie Moderator Lanz reichlich fatalistisch feststellte. Und es wird weiterhin ein Credo der GN bleiben, die positiven Seiten des Gemeinwesens in der Grafschaft darzustellen. Sie reichen vom erfreulich weit verbreiteten ehrenamtlichen Einsatz auf allen Ebenen über die vielfach erfolgreiche wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landkreises bis hin zur Würdigung von Mitmenschen, die etwas Besonderes leisten.

Das hat nichts zu tun mit heiler Welt, sondern bildet die Realität ab in ihren unterschiedlichen Facetten. Eben das, was ist.

Erschienen: GN-Online, 09.08.2019, 15:07 Uhr von Guntram Dörr